Lutindi – "koloniale Irrenfürsorge"

1893 gründete Bodelschwingh in Berlin den „Evangelischen Afrikaverein“, der die „Verbreitung christlicher Gesittung und Kultur“, die „Wahrung der Menschenrechte“ und die „Beseitigung des Sklavenhandels und der Sklaverei“ befördern sollte. 1897 wurde nach seinen Plänen in Lutindi in den Usambarabergen eine „Sklavenfreistätte“ errichtet, in der einige Kinder, die aus der Sklaverei befreit worden waren, aufgezogen wurden. Mit dem Rückgang der Sklaverei wandelte sich Lutindi zu einer Erziehungs- und Waisenanstalt.

1904 wurde die „Kolonialirrenanstalt“ Lutindi, das „Klein-Bethel Ostafrikas“, gegründet. Die nach Plänen des Betheler Baumeisters Karl Siebold errichtete Anstalt war die erste Einrichtung dieser Art in der Kolonie. 1914 beherbergte sie 86 Patienten und war damit die wohl größte Einrichtung ihrer Art in ganz Afrika. Getragen wurde die Arbeit in der „Irrenanstalt“ Lutindi von den dort tätigen Nazarethdiakonen, vor allem Bruder Wilhelm Bokermann, und afrikanischen Pflegehelfern aus dem Kreis der Missionszöglinge. Durch die Weltkriege wurde die Arbeit nur kurzzeitig unterbrochen. 1927 und dann wieder 1951 kehrten die Bethel-Missionare nach Lutindi zurück.

Therapeutisches Handeln

In Lutindi entwickelte man ein umfassendes Konzept therapeutischen Handelns – fraglos ein Fortschritt gegenüber vielen anderen kolonialen Irrenasylen. Der Schwerpunkt der Behandlung lag auf der Arbeit im Freien. Die Männer waren auf den zur Station gehörenden Kaffee- und Bananenfeldern tätig, die Frauen im Gemüsegarten. Die schwächeren Kranken bewegten sich unter Aufsicht im Innenhof. Körperliche Züchtigung war in Lutindi streng untersagt. Handfesseln und Zwangsjacke kamen in den ersten Jahren häufig, später immer seltener zur Anwendung. Bei der Epilepsiebehandlung wurde Bromkali benutzt, erregte Kranke erhielten Beruhigungs- und Schlafmittel wie Chloralhydrat. Bemerkenswert war der Versuch, eine Familienpflege zu initiieren: 1909 führte Platzmangel dazu, dass fünf Patienten im Missionsdorf aufgenommen wurden. Eine Entlassungsquote von etwa dreißig Prozent belegt, dass Lutindi keine reine Verwahreinrichtung war.

Karte

Lutindi
Lutindi

Schwester Lina Diekmann und Diakon Wilhelm Bokermann 1896/97 in Tanga mit freigekauften Sklavenkindern, die nach Lutindi gebracht werden sollen.
Schwester Lina Diekmann und Diakon Wilhelm Bokermann 1896/97 in Tanga mit freigekauften Sklavenkindern, die nach Lutindi gebracht werden sollen.

Die „Kolonialirrenanstalt“ Lutindi, um 1930.
Die „Kolonialirrenanstalt“ Lutindi, um 1930.

Das Innere der Kapelle in Lutindi.
Das Innere der Kapelle in Lutindi.

Einweihung des neuen Männerhauses, 1930.
Einweihung des neuen Männerhauses, 1930.

Ein psychisch Kranker wird von zwei Askaris in die „Kolonialirrenanstalt“ gebracht. Weil er als gefährlich gilt, hat man ihm Handfesseln angelegt. Diakon Wilhelm Nickel nimmt den Patienten in Empfang.
Ein psychisch Kranker wird von zwei Askaris in die „Kolonialirrenanstalt“ gebracht. Weil er als gefährlich gilt, hat man ihm Handfesseln angelegt. Diakon Wilhelm Nickel nimmt den Patienten in Empfang.

Zwei Patienten aus Lutindi in der typischen Anstaltskleidung.
Zwei Patienten aus Lutindi in der typischen Anstaltskleidung.

Herstellung eines Bettes im Innenhof der Anstalt.
Herstellung eines Bettes im Innenhof der Anstalt.

Eine Kolonne von Patienten unter Aufsicht von Diakon Wilhelm Nickel beim Abtragen eines Bergrückens. Hier soll das neue Männerhaus entstehen.
Eine Kolonne von Patienten unter Aufsicht von Diakon Wilhelm Nickel beim Abtragen eines Bergrückens. Hier soll das neue Männerhaus entstehen.

Der hundertste in Lutindi aufgenommene Patient auf dem Wagen beim Festumzug.
Der hundertste in Lutindi aufgenommene Patient auf dem Wagen beim Festumzug.

Der Neubau von 1930, links die Medizinstube, rechts Schneiderei und Schuhmacherei. Durch die offene Veranda in der Mitte geht es in den Speisesaal. Zu dem Patienten rechts im Bild heißt es: „Mose schiebt seine ‚Motocar’“.
Der Neubau von 1930, links die Medizinstube, rechts Schneiderei und Schuhmacherei. Durch die offene Veranda in der Mitte geht es in den Speisesaal. Zu dem Patienten rechts im Bild heißt es: „Mose schiebt seine ‚Motocar’“.